Schwerhörigkeit

Wenn ein Ballon dich tanzen lässt

Tobias Hotz, 9. März 2021, 07:56 Uhr
Manchen gehörbehinderten Menschen fällt das Sprechen schwer, doch viele sind dennoch sehr kommunikativ (Symbolbild).
© GettyImages / byakkaya
Ein Spaziergang ohne Vogelgezwitscher oder eine Autofahrt ohne Radio – kaum vorstellbar. Für viele gehörbehinderte Menschen ist genau dies Realität. Wir haben mit der schwerhörigen Nadia Tschudin gesprochen, über Masken, Konzerte und Vorurteile.

«Endlich mal etwas Ruhe!» Vielen von uns geht dieser Gedanke nach einem stressigen Tag durch den Kopf. Für rund 500'000 Menschen in der Schweiz ist dies nicht ein erleichternder Gedanke, sondern ein gesundheitliches Problem. Sie leben mit einem Hörverlust. Zum Welttag des Hörens am 3. März hat die Weltgesundheitsorganisation einen Bericht vorgestellt. Demnach leben hochgerechnet etwa 1,6 Milliarden Menschen mit Hörverlust.

Taub ist nicht gleich stumm

Die meisten von uns kommen mit Hörverlust in Kontakt, wenn der Grossvater sein erstes Hörgerät braucht. Für Nadia Tschudin von der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose Zentralschweiz (BFSUG) ist Hörverlust in seiner schwersten Form Alltag. Sie ist selbst seit Geburt schwerhörig. «Höreinschränkung, schwerhörig, gehörlos und taub sind alles Formen und Ausdrücke für die Behinderung», erklärt Tschudin. «Taubstumm ist aber falsch und diskriminierend. Denn taub ist nicht gleich stumm.»

Tschudin erhielt ihr erstes Hörgerät im Alter von drei Jahren, zuvor lebte sie in Stille. Das Sprechen fällt ihr daher hörbar schwerer als einer hörenden Person. Wenn sie kommuniziert, ist es eine Mischung zwischen Sprechen und Gebärde. Wenn sie zuhört, ist es eine Mischung zwischen Hören und Lippenlesen.

Corona macht die Welt noch stiller

Die Corona-Pandemie und das damit verbundene breite Maskentragen in der Öffentlichkeit ist für Hörbehinderte daher eine besondere Herausforderung. Auch weil die Behinderung nicht sichtbar ist. «In vielen Alltagssituation wie beim Einkaufen sind wir aufs Lippenlesen angewiesen.» Es sei auch schon vorgekommen, dass sich Personen geweigert haben oder sich schlicht nicht getraut haben, die Maske kurz abzunehmen. «Wir haben für diesen Fall eine Karte kreiert, welche die Situation erklärt.» Das Abnehmen der Maske zwecks Kommunikation mit einem Menschen mit Behinderung sieht das BAG übrigens explizit vor.

Diese Karte hilft gehörbehinderten Menschen in der Coronapandemie.

© bfsug.ch

Mit einem Ballon ans Konzert

Wenn Nadia Tschudin auf einen Spaziergang geht, kann sie dank ihres Hörgerätes auch die Vögel zwitschern hören. «Ich kann aber nicht zuordnen, woher das Geräusch kommt.» Auch hört sie gerne Musik zum Entspannen und ging auch schon an Konzerte. Es gibt auch Konzerte, welche in Gebärdensprache übersetzt werden. «Die Dolmetscher übersetzten sowohl den Text, den Rhythmus als auch die Atmosphäre.» Manche Hörbehinderte gehen teilweise mit einem Ballon an ein Konzert. «Dadurch können sie die Vibrationen der Bässe besser spüren.»

«Wie gehen Hörende schlafen?»

In jungen Jahren trieb Nadia Tschudin ihre Eltern wiederholt zur Weissglut. «Manchmal habe ich bei einem Streit einfach mein Hörgerät ausgeschaltet und die Hände vors Gesicht gehalten.» Sie war so für ihre Eltern quasi nicht mehr erreichbar. Ein Flugmodus der besonderen Art.

So wie wir uns nicht vorstellen können, wie Menschen mit einer Sinnesbehinderung die Welt wahrnehmen, konnte sich Tschudin in jungen Jahren nicht vorstellen, wie hörende Menschen schlafen gehen. «Ich kann mein Hörgerät ausschalten und dann ist ruhig.» Das macht sie manchmal noch heute nach einem anstrengenden Tag mit ihren beiden Kindern und denkt sich anschliessend: «Endlich mal etwas Ruhe!»

Quelle: PilatusToday
veröffentlicht: 3. März 2021 16:08
aktualisiert: 9. März 2021 07:56