«Gesichter der Erinnerung»

Nidwalden und Landeskirchen arbeiten dunkles Kapitel auf: Fremdplatzierungen

Nadine Purtschert, 18. September 2023, 10:09 Uhr
«Gesichter der Erinnerung» ist ein Verein, der ein wichtiges Stück Schweizer Sozialgeschichte beleuchtet: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Der Kanton, die Gemeinden und die Landeskirchen machen gemeinsam auf das Thema aufmerksam. Hunderttausende sind betroffen.

«Eines Tages war dann plötzlich auch meine Schwester weg. Sie war einfach weg. Keine Ahnung. Eigentlich erwartet man ja von den Behörden, dass sie bei finanziellen Schwierigkeiten oder Eheproblemen helfen. Aber es passierte das extremste Gegenteil. Extremer geht es gar nicht.»

Mehrere Hunderttausende Betroffene

Mit erschütternden Geschichten, wie die von Robert, beleuchtet «Gesichter der Erinnerung» ein sehr dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte; das der Fremdplatzierungen: Bis ins Jahr 1981 wurden in der Schweiz fürsorgerische Zwangsmassnahmen vollzogen. Das heisst, dass mehrere 100'000 Kinder aus ihren Familien gerissen und in Heimen oder bei Pflegeeltern untergebracht wurden. Die Betroffenen leiden noch heute unter den Folgen einer traumatischen Kindheit.

32 von ihnen geben ihre Geschichte preis und versetzen die Zuschauenden an einen anderen Ort, einen Ort, den man in der Schweiz in den Jahren bis 1981 nicht für möglich gehalten hätte.

Auf diesem Stuhl sitzend und in schwarz-weiss Aufnahmen erzählen die Betroffenen von ihrer Kindheit.

© Screenshot/Gesichter der Erinnerug

Markus wurde mit drei Jahren ins Waisenhaus in Wolfenschiessen gebracht. Sein Vater hatte die Vaterschaft nicht anerkannt. In dem Heim wurde er einmal von einer Nonne sexuell misshandelt. Zudem musste er regelmässig körperlich harte Arbeit leisten.

Michael wuchs ebenso unter schweren Verhältnissen auf. Seine Erzeuger sind aus dem «Drogensumpf» Zürich, erzählt er. «Alle Geschwister kamen medikamenten-, alkohol- oder drogensüchtig auf die Welt. Daher wuchs ich bei den Grosseltern, im Heim und bei Pflegeeltern auf. Es war nie leicht.»

Kein richtiges Zuhause

Leicht war es auch für Robert nicht. Die Behörden setzten seine Mutter unter Druck: Entweder sie arbeite nicht mehr, oder sie nähmen ihr die Kinder weg. Finanziell war es für die Familie nicht möglich, auf das zweite Einkommen zu verzichten. So wurden zuerst sein Bruder und später seine Schwester fremdplatziert. «Plötzlich waren sie weg.»

Die Betroffenen schildern dem Verein «Gesichter der Erinnerung» ihre traumatische Kindheit. 

© getty/Planet One Images

Die Betroffenen erzählen, wie sie teils in verschiedenen Heimen mit traumatisierenden Erlebnissen aufwuchsen. Wie sie sogar von ihren Geschwistern getrennt wurden, als sie nicht mehr bei den Eltern wohnen konnten oder die Eltern sie weggaben. Wie die Behörden leichtfertig über das Schicksal der Kinder und deren Familien entschieden hatten. Der Verein «Gesichter der Erinnerung» möchte mit den Erzählungen der Betroffenen auf dieses Stück Geschichte aufmerksam machen.

Loretta Seglias, Mitglied des Vereins, klärt auf: «Man weiss seit vielen Jahrzehnten, wie viele Ziegen es in diesem Land gibt. Aber man weiss bis heute nicht, wie viele Kinder nicht bei ihren Eltern aufgewachsen sind. In einem Land, in dem Zahlen und Fakten so wichtig sind wie in der Schweiz, fehlt diese Statistik. Das wurde nie, auch nicht historisch, rekonstruiert. So wichtig war der Gesellschaft dieses Thema!»

«Es geschah in deiner Nähe»: Aktuell sind 1'058 Einrichtungen, Heime und «Anstalten» auf der Karte sichtbar, heisst es auf der Website des Vereins.

Auf der Website kann man sich in die Geschichte der inzwischen erwachsenen, zwangsplatzierten Kinder vertiefen. Es gibt Videos, Bilder und Texte, die unter anderem zeigen, welche Fürsorgemassnahmen angeordnet wurden, wer sie umsetzte und wie Betroffene sie erlebten. Der Gedanke des Vereins: «Man kann es nicht ungeschehen machen, aber man kann hinschauen.»

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Quelle: PilatusToday
veröffentlicht: 18. September 2023 10:09
aktualisiert: 18. September 2023 10:09